aus ZWOELF, Ausgabe 29, Wintersemester 2021/22
Ein hörbarer Vorgang – Die Prozesskomposition
„Per aspera ad astra“ — „Vom Dunkeln ins Licht“,heißt das Motto, demzufolge sich die dramaturgische Entwicklung von Beethovens 5. Sinfonie vollzieht. Laut Wikipedia entspringt dieser Prozess „einem grundlegenden Gedanken der europäischen Kultur“. Zumindest ist diese Deutung typisch für die romantische Epoche, die durch dieses Werk, einer rezension des Schriftstellers und Musikers E. T. A Hoffmann gemäß, eingeläutet wird.
show moreAm Ende dieser Zeit steht AlexanderSkrjabins Poème Vers la flamme op. 72 für Klavier,1914 komponiert. In dessen Spätschaffen fällt es auf als das Stück, das die Stasis anderer Kompositionen überwindet und mit einer bemerkenswerten Ökonomie der Mittel zu einer geradlinigen Steigerung gelangt, dieer selbst als eine Wandlung „aus dichtem Nebel bis insgleißende Licht“ bezeichnet haben soll. Skrjabin arbeitete von 1903 bis zu seinem Tode 1915 auch an dem multimedialen und unvollendet gebliebenen Werk Mysterium, in dem es auch eine Prozession geben sollte: „Es wird keinen einzigen Zuschauer geben. Alle werden Teilnehmer sein. Das Werk erfordert besondere Menschen, besondere Künstler und eine völlig neue Kultur. Zu den Darstellern gehören ein Orchester, ein großer gemischter chor, ein Instrument mit visuellen Effekten,Tänzer, eine Prozession, Weihrauch und eine rhythmische Texturierung. Die Kathedrale, in der die Aufführung stattfindet, wird nicht aus einer einzigen Art von Stein bestehen, sondern sich mit der Atmosphäre undder Bewegung des Mysteriums ständig verändern. Dieswird mit Hilfe von Nebeln und Lichtern geschehen, die die architektonischen Konturen verändern werden.
Processing als fortschreitende Modifikation
Skrjabin nimmt in Mysterium Techniken vorweg, die in dem Schaffen von Karlheinz Stockhausen kulminieren. Dabei geht es bei ihm nicht nur um das Prozedurale, wie etwa in der Komposition Mantra für zwei Klaviere und Ringmodulatoren von 1970, sondern auch um den Begriff der Prozession, nach dem sogar ein Werk aus dem Jahre 1967 für Tamtam, Bratsche, Elektronium/Synthesizer, Klavier und Klangregelung benannt ist,sowie schließlich um das Phänomen des Processing – der Veränderung von Klängen mit elektronischen Mitteln – in Stücken wie Mikrophonie für Tamtam und Live-Elektronik aus dem Jahre 1964.
Kompositionsmodell eines Vorgangs,der geschieht
Prozedurale Musik wird im Allgemeinen mit dem amerikanischen Minimalisten Steve Reich assoziiert, der 1969 die „ultimative“ (Reich über Reich) Prozesskomposition Pendulum Music schrieb. Das Prinzip ist denkbar einfach: An Ständern aufgehängte Mikrofone erzeugenein Pfeifen, wenn sie über Lautsprechern schwingen. Dabei müssen sie so eingestellt sein, dass sie laut genug sind, um eine Rückkopplung zu erzeugen, wenn sie über dem Lautsprecher stehen, aber nicht, wenn sie nach links und rechts schwingen. Während die Pendel zur Ruhe kommen, entsteht ein pulsierendes Dröhnen. Sobald der Drone erreicht ist, wird der Stecker aus der Maschine gezogen und das Ganze endet. Pendulum Music läutete die Phase der Prozesskomposition ein, die sich über die 90er Jahre in unsere Gegenwarterstreckt und zu der zahlreiche Komponierende beitrugen. Zu diesen gehörte György Ligeti, der bereits 1962 seine Poème Symphonique für 100 Metronomeuraufführte. In diesem Stück entfaltet sich ein Prozess,bei dem auf verschiedene Tempi eingestellte Metronome unterschiedlich schnell an Energie verlieren und die langsamsten am Ende übrigbleiben. Bei Ligeti spielt die allmähliche Transformation in seinen als clocks andclouds apostrophierten Kompositionen generell eineeminente rolle; dabei seien die Drei Stücke für zweiKlaviere aus dem Jahre 1976 herausgehoben. Der holländische, kürzlich verstorbene Komponist Louis Andriessen repräsentierte die europäische Spielart des amerikanischen Minimalismus, der mit Namen wie LaMonte Young, Terry Riley, Steve Reich, Philipp Glass und John Adams verbunden wird. Kennzeichnend für Andriessen ist etwa die von Strawinsky abgeleitete komplexe Harmonik, die sich zum Beispiel in der 1982 bis 1983 entstandenen Komposition De Snelheid manifestiert.
Selbständige Fragmente verschmelzen zur Einheit
Prozesskomposition hängt im besonderen Maße von einer parametrischen Betrachtung des musikalischen Materials ab. Neben Tonhöhe, Tempo, Klangfarbe und Ereignisdichte – Töne pro Zeiteinheit – spielen auch komplexere Parameter wie Harmonizität, Tonalität und Metrizität eine Rolle. Sie alle lassen sich Prozessen unterwerfen, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und zu verschiedenen Zeitpunkten im Werk auftreten können. Es verblüfft daher nicht, dass viele Prozesskompositionen mit dem Computer errechnet wurden. Zu nennen sind die zwischen 1974 und 1985 entstandenen Espace Acoustiques des französischen Spektralkomponisten Gérard Grisey sowie das 30-minütigeKlavierstück Çoğluotobüsişletmesi des in Barcelona lebenden Komponisten Klarenz Barlow aus dem Jahre 1978. Barlow veröffentlichte zwei Jahre später eine 124-seitige Werkbeschreibung unter dem Titel Bus Journey to Parametron, die im Anhang einen „Fahrplan mit Stationen“ enthält, der aufzeigt, wie einzelne Parameter sich im Laufe der Performance verändern. Zwischen 1986 und 2000 arbeitete er auch an der Autobusk genannten Echtzeit-Version seiner Algorithmen, die an der HfMT Hamburg unter dem Namen DJster weiterentwickelt wird. Elektronik spielt nicht nur zur Errechnung von Strukturen eine Rolle bei musikalischen Prozessen. So wie bei Reich Mikrophone wie Pendelüber Lautsprechern hin und her schwingen und dabeidas entstehende Feedback musikalisch genutzt wird, so setzt der amerikanische Komponist Alvin Lucier in seiner Komposition I Am Sitting in a room aus dem Jahr 1969 auf analoge Elektronik, um einen gesprochenen Satz durch wiederholtes Aufnehmen und Abspielen langsam in die Resonanzen des Raums zu überführen,in dem sich dieser Prozess abspult. Die Musik Luciers, wie auch die seines Landsmanns James Tenney, etwain For Ann (rising) ebenfalls aus dem Jahre 1969, und der französischen Komponistin Eliane Radigue spielt mit der Wahrnehmung der Hörenden: Langsam sich vollziehende Veränderungen erfordern eine Art umprogrammieren der Wahrnehmung, da sich mit der klanglichen Alltagserwartung schnell Langeweile einstellt. Das zeigt sich in besonderem Maße im Werk desin New york lebenden Komponisten Phill Niblock. In seinen elektronischen Kompositionen, die zunächst wie statische Klangwände empfunden werden, manifestieren sich subtile spektrale Variationen, die ein Hinhören erzwingen. Gegenwärtig arbeiten Komponierende zunehmendmit künstlicher Intelligenz und neuronalen Netzen. Diese sind in der Lage, Musik, die sie „erlernt“ haben, weiterzuführen und dadurch neue Strukturen zu generieren. Grundlage dafür sind aus zahlreichen Kompositionen bestehende corpora. Wie es Skrjabin mit seinen Nebeln und Lichtern bereits vor über 100 Jahren vorwegnahm, sind ständige Veränderungen nicht nur der Musik vorbehalten. Das von ihm erträumte Projection Mapping lässt sich unter anderem mit Processing bewerkstelligen, einer Software für die Generierung und Verarbeitung von Bildern. Davon aber ein anderes Mal.
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