Zeitungskritiken

Psychogramm einer wahnsinnigen Studentin

Oper „Der Sprung“ im Pumpenhaus Münster uraufgeführt

MÜNSTER
Ein fast stockfinsterer Raum, sanft anschwellende Klänge aus dem Computer und statuenhaft hinter dem Orchester sitzende Sänger: Ein bedrückendes Szenario empfing die Zuhörer einer Opernuraufführung in Münster. Die wahre Geschichte, die dieser Oper zu Grunde liegt, ist schnell erzählt: Eine Studentin erschoss im Wahn ihren Professor. Am Samstag wurde Georg Hajdus Oper „Der Sprung“ im ausverkauften Pumpenhaus uraufgeführt. Viele Schichten und Perspektiven weist die Oper auf. Akustische Instrumente, Computerklänge und Geräusche bildeten eine faszinierende Musikcollage, zumal die Ausführung durch die Musiker und vor allem den souveränen Dirigenten René Gulikers hervorragend gelang.
An Stelle eines konventionellen Librettos verwendete Autor Thomas Brasch mehrere relativ kurze Text-Bruchstücke, die im Ablauf ein Psychogramm dieser Studentin ergaben. „Eine Oper schreiben heißt: Keinen anderen Ausweg wissen.“ Dieses provozierende Motto des Autors auf den Anrufbeantworter Hajdus gesprochen, digitalisiert, gestreckt und vom Computer bearbeitet, liegt der gesamten Oper zu Grunde. Diese Worte erschienen als erste auf der Schultafel, die als Medium für die optische Wiedergabe der gesungenen Texte und als einziges Requisit diente. Eine Leiter neben der Tafel diente Schreiberin und Sprecherin Anya Fischer als Sitzgelegenheit, von der sie das Geschehen wie von einem Sprungturm herab verfolgte. Ein wenig hat Hajdu mit der Oper „Der Sprung“ die konventionelle Opernwelt ins Gegenteil verkehrt. Die Szenen wirken statisch, schauspielerische Elemente entfallen fast ganz; nur die Musik treibt die Handlung voran. Doch eben hier geschieht genug, um eine Wahnsinnstat zumindest emotional deutlich werden zu lassen. Denn emotional, im Gestus manchmal hochromantisch, ist die Musik Hajdus. Den Sängern wurden keine festen Rollen zugewiesen, jeder verkörperte stattdessen mehrere Rollen. Hyun-Joo Suk, Almuth Marianne Kroll (Sopran), Annette Kleine, Bettina Petersen (Alt), Wolfgang Tiemann, Hans Hermann Jansen (Tenor), Peter Ziethen und Mark Coles (Bass) hatten großen Anteil an der Wirkung der Musik. Besonders Annette Kleine traf genau den notwendigen Ausdruck. Zwischen all den Klängen, die den Zuhörern vor Ohren hielten, dass ein musikalisch sehr bewegtes Jahrhundert gerade zu Ende geht, ließ die hervorragend aufgelegte Klarinette (Klaus Flaswinkel) ein wenig Klezmer-Atmosphäre aufkommen.
Die Combo um Saxofonisten Jan Klare schien manchmal etwas makaber zum Tanz aufzuspielen. Den Ohren jener Musikfreunde die sich zumindest sporadisch einmal mit der Musik unseres Jahrhunderts beschäftigen, dürfte „Der Sprung“ keine Probleme bereiten. Zumal die Musik handwerklich dermaßen gut angelegt ist, dass sie die Besucher einfach zum genauen Hinhören zwingt.

Heike Eickhoff

Westfälische Nachrichten 4.10.1999

 


Anspruchsvoll: Hajdus Opernpremiere im Pumpenhaus

Finessen und Fragezeichen

Von DIRK JAEHNER

Münster – Georg Hajdu hat eine schelmische Philosophie. Das größte Kompliment für ihn und seine Musik sei es, wenn das Publikum nach eigenem Bekunden zwar etwas Tolles erlebt habe, aber dennoch ein wenig ratlos bleibe und nochmal über die Sache nachdenken müsse. Nach der Uraufführung von Hajdus neuer Oper „Der Sprung“ in Münsters Pumpenhaus hatte die Hörerschar reichlich Stoff dazu.

Die halbszenische Aufführung schien angesichts des nicht wirklich dramatischen Konzepts völlig auszureichen. Librettist Thomas Brasch setzt sein Textbuch aus elf rückblickenden, eher kontemplativen Texten zusammen und verzichtet vollständig auf eine klare Personenzeichnung. Es basiert auf der wahren, in den 80er Jahren passierten Geschichte einer Kölner Philosophiestudentin, die im Glaubenswahn (sie fühlte sich berufen, als Nicht-Jüdin dem jüdischen Volk als Beschützerin „vorauszugehen“) einen Judaistik-Professor erschoss und einen weiteren verletzte. Der Titel der Oper bezieht sich auf den imaginären Sprung der Studentin von einem Elf-Meter-Turm in ein nicht gefülltes Wasserbecken, bei dem sie das Geschehen noch einmal Revue passieren lässt.
Ist der Zugang zum Text schon schwierig, präsentiert sich die Musik noch verschlüsselter. Hajdu gewann mittels komplizierter Computerprozesse aus dem Satz „Eine Oper schreiben heißt: keinen anderen Ausweg wissen“, den der Librettist auf seinem Anrufbeantworter hinterließ, das musikalische Grundmaterial. Daraus erstellte er eine Partitur für akustische und elektronische Instrumente, aber auch für gesampelte Geräusche. Wie das letztlich vonstatten ging, bleibt dein Hörer verborgen. Entscheidend ist auch nicht die Inspirationsquelle der Musik, sondern die reproduzierbare Gestalt der Partitur. Im Ergebnis vereinigt Hajdu so ziemlich alle musikhistorischen Stile – eine Renaissance-Motette ist ebenso vertreten wie „Klezmermusik“, Elemente des Freejazz und Elektronik.
Die Umsetzung seiner multimedialen Oper vertraute Hajdu einem Dozentenkollegen von der münsterschen Musikhochschule an: René Gulikers, mit zeitgenössischer Musik durchaus vertraut, leitete mit großer Präzision ein 20-köpfiges Orchester und acht Gesangssolistinnen und –solisten. Den Sängern – darunter Bass Mark Coles und Mezzosopranistin Annette Kleine – war die recht undankbare Aufgabe übertragen, den Text ohne konkrete Rollenzuweisungen wiederzugeben, dafür aber mit allen Finessen der Atonalität. Leider hatten sie es oftmals schwer, sich gegen das von Holz- und Blechbläsern dominierte Instrumentalensemble durchzusetzen. Beeindruckend geriet indes ein „Intermezzo“, in dem die Sänger a cappella gegen die elektronische Verarbeitung ihres eigenen Gesangs agieren mussten. Die einzige echte Figur war eine Sprechrolle:
Anya Fischer verkörperte den Part der geistig verwirrten Studentin beängstigend gut.
„Warum nicht eine Oper schreiben, bei der die Szene im Kopf des Hörers entsteht“, fragt Georg Hajdu. Eine solche Oper ist „Der Sprung“ geworden. Ihre Bedeutung erschließt sich jedoch erst durch die Lektüre des Programmhefts. Es ist kein Werk zum Hinsetzen und Genießen sondern zum Nacharbeiten. Und auch wenn der Beifall spontan, heftig und andauernd war, die Fragezeichen prangten deutlich genug auf manchem Gesicht. Aber das ist ja ein Kompliment. Siehe Anfang.

Münstersche Zeitung 4.10.1999

 

 

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