Musiktexte

Einige fragmentarische Überlegungen zu
Georg Hajdu: „Der Sprung“

von Eberhard Hüppe

Das Musiktheater der jüngeren Moderne ist wie keine andere Gattung Polarisierungstendenzen ausgesetzt. Geht einerseits von den institutionalisierten Praktiken ein übermächtiger Sog aus, der jeder kompromißbereiten Konzeption vollends ihren Stempel aufdrückt, so zielen einige wohlüberlegte Distanzierungen von der Opernpraxis darauf, daß die Reduktion auf ein statisches Bühnenbild – was dem Ausschalten visuell verfolgbarer Handlungen schon sehr nahe kommt – das eigentliche Operngeschehen auf das anwesende Publikum verlagert. Das Drama besteht darin, dem Publikum die Dramaturgie seines eigenen (Zu-)Hörens zu entdecken. Dazu ist die wie immer auch beschaffene Einbeziehung der Inkongruenz von Hören und Sehen ein unerläßliches Mittel. Stockhausen, Feldman, Nono, Lachenmann und Cage haben für die ästhetisch-kognitive Problematik des Genres Oper Konzepte entwickelt, die dazu führten, daß sich an Dramatisierungen kognitiver Dissonanzen (wohlgemerkt: nicht unbedingt der Klänge) Geister scheiden. Innere, kulturell bedingte Widersprüchlichkeiten der Wahrnehmung sind das Feld des Musiktheaters der high-brow-art Avantgarde. Hier setzt auch Georg Hajdus Opernprojekt „Der Sprung“ (nach einem Libretto von Thomas Brasch) an, das am 2. Oktober 1999 in Münster unter der Leitung von René Gulikers und der Klangregie von Georg Hajdu konzertant uraufgeführt wurde.

„Der Sprung“ basiert auf einem tragischen Vorfall, der sich im 1984 in der Universität Köln zutrug: Eine Studentin erschießt einen Professor für Judaistik und verletzt einen weiteren schwer. Die Recherchen des Vorfalls führen zu der Erhellung der tragischen Verstrickung einer persönlichen mit einer nationalen Pathologiegeschichte. Als Tatmotiv der schwer an Schizophrenie erkrankten Studentin stellt sich heraus, daß sie aufgrund der jüdisch-deutschen Geschichte – des Holocausts wegen – es geradezu als Verbrechen betrachtete, daß nichtjüdische Professoren Judaistik lehren. Sie, die zum jüdischen Glauben übergetreten war, fühlt sich zur Durchführung der Tat legitimiert.

Dichtung als Analyse: Thomas Brasch faßt den Tathergang, persönliche Notizen und Recherchen über das Umfeld der Studentin zu einem Gedankendrama zusammen. Was dabei herauskam ist ein Tableau heterogenster Elemente, das auf die Musik ausstrahlt. Worin besteht der Zusammenhang eines Sprungs vom Elf-Meter Brett mit Mick Jagger, der Bevölkerung eines Terrariums und einer Frau, die sich in einen Gebetsmantel hüllt? Braschs Konzeption sieht vor, daß diese Leistung von der Musik zu erbringen sei.

Der Einsatz der interaktiven Computertechnologie, eine Weiterentwicklung des Serialismus, die sowohl den kompositorischen Vorgang als auch die Aufführungssituation steuert, bedarf um den künstlerischen Prozeß in Gang zu setzen, einer Software zweiten Grades. Eine solche Software hält das Alltagsleben bereit, aber man muß sie als solche erkennen.

Musik und Libretto nehmen ihren Ausgang von einer beiläufigen Bemerkung Braschs: ,,Eine Oper schreiben heißt: Keinen anderen Ausweg wissen.“ Hajdu bat Brasch, den Satz noch einmal auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Durch klanganalytische Aufbereitungen in Diagrammform gebracht, durch die Festlegung eines zeitlichen Rahmens und der Ausmessung der Strecken zur Bestimmung der Strukturverläufe (Einteilung in „Zeitscheiben“, so Hajdu) wurde der Satz zur Strukturformel für ein elfteiliges Libretto und einer zweiaktigen Oper (zu je vier Szenen) mit Prolog, Intermezzo und Epilog.

Die Studentin wird als Sprechrolle verkörpert, die die Schlüsselsätze einer jeden Szene an die Tafel schreibt. Die Oper beinhaltet Hörspielelemente. Acht Sängerinnen und Sänger agieren teils solistisch, teils zu einem Kammerchor vereint. Über Mikrophone und Kopfhörer sind sie mit der Elektronik verbunden. Das Kammerorchester mit 20 Mitwirkenden enthält neben der herkömmlichen Instrumentalformation drei Syntheziser und eine Jazz-Gruppe. Die Gesamtformation wird durch den Computer koordiniert.

Jedes szenisches Moment ist episodisch genau abgezirkelt. Dem horizontal ausgerichteten Handlungsverlauf werden, um die Dramaturgie der heterogen verlaufenden Ereignisse im Kopf anschaulich zu machen, vertikal aufgeschichtet (Simultaneität). Dies leistet die interaktive Musikelektronik. Aber auch Hajdus Musikstil ist, wie die Instrumentalbesetzung ahnen läßt, querschnittartig angelegt. Jedes szenisches Moment hat deshalb seine eigene Klangsprache. Die „Wassermusik“ des Prologs, der sich mit dem Sprung von Elf-Meterbrett befaßt, benutzt konkrete Klänge aus einem Schwimmbad, die elektronisch transformiert und potenziert werden. In diese Klanglandschaft wird Text projiziert und in den klanglichen Transformationsvorgang einbezogen. Eine statische, filigrane und fluktuierende Musik ist das sinnliche Resultat.

In Szenen mit dialogischen Handlungsverläufen, die von einer gestenreichen, sehr impulsiven Musik mit traditionellen Gattungselementen getragen werden, bevorzugt Hajdu das Orchester. Es ist auch das Medium stilbezogener Transformationsvorgänge, um Vergangenheit zu veranschaulichen. So etwa in den Jazz-Rock-Allusionen in einer Szene des Ersten Akts, in der die konfusen Entscheidungsalternativen der Hauptakteurin behandelt werden. Die „Vernichtung“ Mick Jaggers durch Wegwerfen seiner Platten (als Folge einer eingebildeten Affäre mit ihm) liegt bereits auf der Ebene des Tötungsvorsatzes, der ebenfalls von einer eingebildeten Beziehung mit einem Lehrenden des Instituts für Judaistik motiviert ist. »I can get no satisfaction« ist in Hajdus Musik eingearbeitet. Es kommt aber Hajdu nicht darauf an, Jazz-Rock auszukomponieren, sondern diesen Stil durch serielle Mittel in ein fremdartiges, synthetisches Gebilde umzuformen. Ebenso verhält es sich in der Szene, die die Kriterien für den Kauf der Mordwaffe beschreibt. „Die Waffe soll eine aus dem Mittelalter sein“ löst Ars nova Anklänge aus, unechte Klezmer-Musik begleitet das Drama der unechten Identität in Zweiten Akt.

Hajdu arbeitet auf die Konzeptualisierung einer Semantik hin, die, wie Brasch es formuliert hat, eine Semantik der Beobachtung sein wird. Dazu bedarf es anderer Sprachstile. Beide Postulate lösen Musik aus: Die Beobachtung der semantischen Schichten einer Oper führt zu der gesprochenen Strukturformel auf dem Anrufbeantworter, genauer zu derem Hintergrundrauschen. Eine Darlegung der komplexen Struktur des Intermezzos (Chor und Live-Elektronik) würde hier zu weit führen. Konkret hörbar werden unterschiedlich gedehnte Glissandoflächen von jeweils verschiedener harmonischer Struktur in einem mikrointervallischen System, was wie Obertonmusik wirkt. Man könnte fast von einem in die Länge gezogenen Choral sprechen. Das Intermezzo darf als der musikalische Höhepunkt der Oper bezeichnet werden. Die mikrointervallische Struktur der Harmonik kehrt in einer rondoartigen Szene für Alt-Solo, die tiefste Töne verlangt, und LiveElektronik wieder, die über die Bedingungen einer anderen Sprache reflektiert: Wir hören gleichsam eine in der mikrointervallischen Umgebung resynthetisierte, tonal wirkende Klanglichkeit, die nicht irritiert, vielmehr irisiert. Stetig herabfallende Tonstufen in mehreren Stimmen, deren Reihenfolge aber nicht vorhersehbar ist, könnten sich ins Unendliche fortsetzen.

Fassen wir zusammen: Für die Umsetzung der schizoiden Struktur eines Gedankendramas, seiner Hörbar- und in der konzertanten Darbietung ansatzweise erfolgter Sichtbarmachung (für die Realisation auf der Bühne werden noch Videos hinzugefügt) kommen die zu jeder Integration, zu jeder Dissoziation bereiten multimedialen Mittel gerade recht. Die Gestalt, die Hajdu und Brasch ihrem Gedankendrama gegeben haben, benötigt konzeptualistische, kontruktivistische und dekonstruktivistische Vorgehensweisen. Beherrschen konstruktivistische Mittel die Erzeugung wie immer auch gearteter musikalischer Strukturen, so wird die kulturelle Disparität des Ereignisses durch dekonstruktivistische Verfahren freigelegt. Die Vieldeutigkeit von Bezügen in die das Wort „Sprung“ eingeordnet werden kann, motiviert das Assoziationsspektrum der Oper. Die Disparität der kulturellen Schichten werden homolog auf die Mannigfaltigkeit der kompositorischen Stile bezogen. Aus der multimedialen Formierung aller dieser Schichten entwickelt Hajdu eine Dramaturgie, die auch gleichzeitig die Struktur des Gedankendramas ist. Darin besteht die Pointe der von Beginn an erfolgten Verklammerung von Sprache und Musik.

So kommen wir zu dem Satz zurück „Eine Oper schreiben heißt: Keinen anderen Ausweg wissen.“ Das heißt freilich nicht anderes, daß das Herbeiführenwollen einer Identität zwischen Dramaturgie und Struktur, daß Anfang und Ende des dabei zurückgelegten Weges Differenzen, Sprünge aufweisen. Der Sprung besteht darin, das Hören zur Funktion des Bühnengeschehens zu machen. Wagner Gesamtkunstwerk war der erste Schritt auf diesem Weg. Während seine Form des Gesamtkunstwerks zutiefst mit dem ästhetischen Diskurs der industriellen Revolution verbunden ist, geht das multimedial und konzeptualistisch strukturierte Kunstwerk – worauf bereits Fredric Jameson hingewiesen hat – in dem historischen Begriff des Gesamtkunstwerks nicht mehr auf. Das multimediale Kunstwerk ist im dramaturgischen wie im strukturellen Sinne Dienstleistung an der Wahrnehmung, deren aktive Mitwirkung jedoch die Voraussetzung dafür ist, überhaupt noch etwas anderes als Halluzinationen wahrzunehmen. Dies gilt im künstlerischen wie im politischen Sinne.

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